Marianne Schroeder

Mein Meister Scelsi ist ein wunderbarer Mensch gewesen. Er war ein Genie. Er war sehr gütig und grosszügig. Ein richtiger Graf. Nach dem Essen hatte er ein strahlendes pausbäckiges Gesicht. Von einer Bereitschaft zum Lächeln, von der Freude an jedem Tag seines Lebens war sein Gesicht geprägt. Er war ein Mann der Rituale, der Inspirationen. Er legte sich gerne in die Sonne und unmittelbar und plötzlich wurde er von Ideen erfüllt. Seine Inspirationen kamen so überraschend, dass man manchmal das Gefühl bekommen konnte von der Grenze der Erfassbarkeit. Er erinnerte mich in dieser Hinsicht sehr an Mozart, und in seinem Geschmack an Lebensfreude und in der Spiegelung seines Übermuts, der niemals morbide oder beängstigend wurde. Auch nicht in der Stunde seines Erlöschens. «Comme une bougie.» Er leuchtete in seinem Erlöschen voller Musik. Und dieses Strahlen hat sein Eingefallensein, seine Schwäche durch Transparenz durchleuchtet. So, dass man die Empfindung bekam von dem Widerschein einer Existenz, die diese beiden Extreme mit einer inneren Präsenz vereint. Eine Präsenz, die nur ein grosser Meister besitzt.

Er empfahl, jeden Tag zu improvisieren.

Und, nun, an einem Abend passierte etwas völlig Unvorhergesehenes. Wir waren zu viert beim Abendmahl und Bruna legte mir eine Auswahl der Speisen auf meinen Teller. Da brach aus Scelsi ein regelrechtes Donnerwetter hervor: Wie kannst du es wagen, meinem Gast die Speisen einfach auf den Teller zu legen! Der Mensch ist autonom und darf niemals bevormundet oder sogar verletzt werden. Nimm sofort alle Speisen zurück und lass sie selber ihre Wünsche aussuchen. Bruna verstand das kaum, es war ihr noch nie so etwas zugestossen. Der sonst so sanfte und liebenswürdige Scelsi konnte unmittelbar eine Seite offenbaren, die alle wie wachrüttelte. Seine Reife verband ihn mit allem, und selbst in den schwierigsten Situationen behielt er seine Sicherheit.

Ich fühlte mich nie allein, wenn ich seine Musik spielte. Wo immer ich hinging, sie war immer mit mir.
Seine «bougie», sein Erlöschen, war wie ein Akkord, der die Ewigkeit mit einschliesst.
Und wie Ttai, die 9. Suite. «Spiele sie immer, wenn du traurig bist. Auch wenn du übermütig bist.» Sie ist das einzige Stück, das ich nicht hören durfte in seiner Tonband-Aufnahme. Er übergab sie mir einfach.

Ich lernte von seiner Leichtherzigkeit, die mich fasziniert und immer ganz in Anspruch genommen hat.

Und dass sein Leben für mich eine Erfüllung und auch eine Hoffnung werde, dass ich genauso bis zum letzten Moment wie eine «bougie» musizieren, im Musizieren erlöschen dürfe.

So lernte ich, dass Freude und Schmerz ein tiefer, natürlicher Reinigungsprozess sind, ein Reifungsprozess, der uns wie ein Licht leuchtet, der uns in allen unseren Schwierigkeiten des Lebens eine Leuchte sein kann.